Werkstoff Glas


Die Aktualität des Werkstoffes Glas ist ungebrochen. Das organische Schmelzprodukt, das wegen ungeordneter Moleküle nicht kristallisiert und dadurch die erstaunliche Transparenz erhält, hat als „Mysterium der Oberfläche“ die Menschheit seit der Entwicklung etwa um 1500 v.Chr. in Bann genommen.

 

Meinrad Morger

Morger+Dettli Architekten BSA/SIA, Basel
 


Am Anfang stand die geschlossene Wand, durchsetzt von vielen kleinen Fensteröffnungen, die wie leuchtende Augen in die Landschaft träumten. Die Beschaffenheit der Fenster war nicht nur Abbild der technischen Möglichkeiten und klimatischen Gegebenheiten, sondern auch Ausdruck der damaligen Lebensweise. Das Fenster bedeutete eine existentielle Verbindung von innen nach außen. 

Im 19. Jahrhundert gab es in der Entwicklung und Herstellung der Glaserzeugung wesentliche Fortschritte, so dass es in der Folge möglich wurde technisch bessere und großflächigere Gläser zu produzieren. Dieser Prozess ging einher mit radikalen  gesellschaftlichen Veränderungen, mit neuen Bedürfnissen und Begehrlichkeiten. Die geschlossene Wand wurde immer mehr zur transparenten Haut. Der dunkle Raum immer mehr zu einem offenen, hellen, lichtdurchfluteten fließenden Raumsystem.

Die Fähigkeit des Vorspannens von Glas, die Herstellung von Verbundglas und die Erfindung des Floatprozesses ermöglichten die Produktion von noch hochwertigerem Glas und noch größeren Formaten. 

Seit der Kritik (Energieproblematik) an den vollverglasten Bauten der Moderne, die in den siebziger Jahren zu einer vorübergehenden Abkehr von der exzessiven Verwendung von Glas führte, hat sich die Glasentwicklung weiter revolutioniert. Im Wissen um die bekannten Vorteile von Glas (Transparenz, Transluzenz, geringer Unterhaltsaufwand, hohe Wiederverwertbarkeit und Wirtschaftlichkeit) gelang es in der Folge das Potential von Glas innovativ, radikal und äußerst sinnvoll auszuweiten: die Nutzung passiver Solarenergie; die Idee der dynamischen Fassade, die Möglichkeit druck- und biegebeanspruchter Glaskonstruktionen und im großen Maßstab die Klimahülle. Glas erfüllt inzwischen die Bedingungen umweltverträglichen Bauens im hohen Maße. 

Offensichtlich wurde auch, dass der Werkstoff Glas neben der Transparenz in der traditionellen Vorstellung vermehrt Qualitäten im Zwischenbereich von Transluzenz und Opazität zu interessieren begann. Die opaken, durchscheinenden, transparenten Wände demonstrieren die Wechselbeziehung und Interaktion von Flächen als neue Erscheinungsformen. Die Oberflächen erscheinen geheimnisvoll, mehrdeutig und vielschichtig – als taktile Impressionen.

Glas wurde im medialen Zeitalter auch zu einem bedeutenden Informationsträger. Außenhäute und Fassadenbekleidungen werden zu programmierbaren Flächen, photosensiblen Membranen, die die räumliche Ordnung von Baukörpern übersetzen, gestalten und präzisieren: „Die gläserne Haut wird zum Ereignis“.

Das unerschöpfliche Potential des Werkstoffes Glas und seine Anwendungsbereiche lassen auf viele, heute noch utopisch erscheinende Erfindungen hoffen.

Die Idee zur Anlegung einer Datenbank für Baumaterialien über das Medium Internet ist sehr zu begrüßen. Die Vorteile sind bekannt, und die Freude wächst, dass wir die neusten Tendenzen und Entwicklungen schnell und online in Erfahrung bringen dürfen.

Einen großen Dank gilt den Initiatoren, der Architektin Christiane Ern und dem Architekten Simeon Heinzl, die dieses zeitgemäße Nachschlagewerk ermöglichten.


 
Werkstoff Glas